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Der Handlungsreisende und der Tod

Als Henry Dunant im Frühsommer des Jahres 1859 aufbrach, um Napoleon III. seine Aufwartung zu machen, hatte er den Mammon vor Augen, nicht die Menschlichkeit. Der 31-jährige Genfer Patriziersohn wollte ein ziemlich wackliges Handelsgeschäft in Algerien anschieben.

Da die französischen Behörden sich offenbar nicht allzu kooperativ verhielten, wünschte Dunant den Kaiser der Franzosen selbst zu sprechen - nur, dass dieser gerade bei seinem Heer in der Lombardei war, das aufseiten der Italiener in deren nationalem Einigungskrieg gegen die Österreicher kämpfte. Ein Sonderling musste dieser Henry Dunant wohl gewesen sein, wenn er ernstlich geglaubt hatte, Napoleon III. hätte Zeit für seine Geschäfte.

Statt auf den Kaiser traf der wunderliche Handlungsreisende - auf den Tod. Der Zufall wollte es, dass Henry Dunant just dann südlich des Gardasees angelangt war, als bei Solferino am 24. Juni 1859 eine schreckliche Schlacht ausgetragen wurde. Über 300 000 Mann standen dort einander gegenüber. Am Ende waren die Österreicher geschlagen - und 40 000 Soldaten gemetzelt und verstümmelt. In seinen Memoiren schreibt Dunant, er sei zwar als Tourist dabei gewesen: mais un touriste tout préoccupé des questions d'humanité - als ein Tourist, aber ganz von humanitären Fragen besessen.

Das trifft zeitlich so wenig zu wie der Eindruck, er sei selber Augenzeuge der Schlacht von Solferino gewesen. Aber Dunant bekommt, am Tage darauf im acht Kilometer von Solferino entfernten Dorf Castiglione angelangt, die schrecklich zugerichteten Opfer zu Gesicht und bemüht sich nach Kräften zu tun, was zu tun bleibt.

Drei Jahre später, im Jahr 1862, bringt Henry Dunant ein Büchlein heraus: Un Souvenir de Solferino - Eine Erinnerung an Solferino. Dieser Bericht führt zur Gründung der ersten NGO, der ersten Nichtregierungsorganisation der Geschichte - nämlich des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz; und zur Begründung des humanitären Kriegsvölkerrechts der Neuzeit. Diese Schrift steht am Anfang einer Geschichte, die bis heute aktuell bleibt - bis zu den Terroranschlägen vom 11. September, bis in die Wochen der Daisy-Cutter-Bomben, der Splitterbomben über Afghanistan, der flächendeckenden Benzinbomben und der Bombenabwürfe auf ein Lager von afghanischen Kriegsgefangenen: fast auf den Tag genau hundert Jahre nach der Verleihung des ersten Friedensnobelpreises an Henry Dunant (und an den französischen Friedenskämpfer Frédéric Passy). Es ist dies der Anfang einer immer noch unvollendeten und nie zu einem Ende kommenden Geschichte des Unmöglichen: der Humanisierung des Inhumanen - des Krieges.

Eine Erinnerung Dunants an Solferino - ein Rapport des immer gleichen Grauens: "Die Pferde zertreten mit ihren beschlagenen Hufen Tote und Verwundete. Einem armen Blessierten wird die Kinnlade fortgerissen, einem anderen der Kopf eingeschlagen, einem dritten, den man hätte retten können, die Brust eingedrückt ... Den Reitern folgt in gestrecktem Lauf bespannte Artillerie. Sie bahnt sich ihren Weg über Tote und Verwundete, die auf dem Boden liegen. Gehirn spritzt aus den zerplatzenden Köpfen, Glieder werden gebrochen und zermalmt, Körper werden zu formlosen Massen." So zieht sich das Seite um Seite hin, bis zu der rhetorischen Frage: "Warum mit soviel Behagen sich über bejammernswerte Bilder verbreiten und sie in einer Weise ausmalen, die man übergenau und trostlos nennen könnte?" Als Antwort stellt Henry Dunant die eigentliche Frage, die ihn erst zu diesem Bericht aus der Hölle von Solferino veranlasst hatte: "Gibt es während einer Zeit der Ruhe und des Friedens kein Mittel, um Hilfsorganisationen zu gründen, deren Ziel es sein müsste, die Verwundeten in Kriegszeiten durch begeisterte, aufopfernde Freiwillige, die für ein solches Werk besonders geeignet sind, pflegen zu lassen?"

"Wie ein Hund" zu Grabe getragen

Im Februar 1863 ernennt die Gemeinnützige Gesellschaft von Genf einen Ausschuss von fünf Mitgliedern, unter ihnen Henry Dunant, der das erste Internationale Komitee vom Roten Kreuz bilden sollte. Im Jahr darauf, am 22. August 1864, wird in Genf die "Konvention, die Linderung des Loses der im Felddienste verwundeten Militärpersonen betreffend", von zunächst zwölf Staaten unterzeichnet, die erste aller Genfer Konventionen und die Gründungsurkunde aller nationalen Rot-Kreuz-Organisationen. Schon bei der Eröffnungssitzung des Komitees gibt Gustave Moynier, der Präsident der Genfer Gemeinnützigen Gesellschaft, den Grundkonflikt zu Protokoll: "Statt Mittel zu suchen, um den Krieg weniger mörderisch zu machen, so hat man behauptet, würden wir besser tun, die Geißel bei der Wurzel anzugreifen und für eine allgemeine und ständige Befriedung der Welt zu arbeiten. Wenn man unsere Widersacher anhört, so scheint es grade, als wenn wir auf nichts weniger hinzielten, als den Krieg zu legitimieren, dadurch nämlich, dass wir ihn als ein notwendiges Übel ansehen."

Bald freilich sollten zwei Geschichten einen getrennten Weg gehen: die offizielle Geschichte des humanitären Kriegsrechts und die persönliche Geschichte des Henry Dunant. Inzwischen muss man schon ein Spezialist des speziellen Völkerrechts sein, wenn man die vielfach ergänzten, übereinander geschichteten, miteinander verflochtenen Konventionen überblicken will. Da ist zum einen das komplexe Bündel der Genfer Konventionen, die das Wirken der neutralen humanitären Organisationen ermöglichen sollen. Und da ist zum anderen das kaum weniger unübersichtliche Geflecht der Haager Konventionen, die das kriegerische Handeln der verfeindeten Staaten selber zu mäßigen versuchen. Mal um Mal mussten diese Konventionen weit zurückbleiben hinter der Entwicklung der Waffentechnik und der zunehmenden Entgrenzung des Krieges, bis hin zu seiner Totalisierung und zur Entstaatlichung der bewaffneten Konflikte in jüngster Zeit. Die Unterscheidung zwischen Kombattanten und Nichtkombattanten, die Begrenzung der militärischen Aktionen auf das militärisch Unvermeidliche, die Schonung der Zivilbevölkerung und ihrer Lebensgrundlagen - alle diese zivilisatorischen Regulierungen des Zivilisationsbruches werden immer aufs Neue niedergewalzt. Die Geschichte des humanitären Kriegsrechts - eine Geschichte der Verzweiflung.

Einen verzweifelten Fortgang nahm auch die Geschichte Henry Dunants. Vier Jahre nach seinem größten humanitären Erfolg wurde ihm ein betrügerischer Bankrott bescheinigt. Die Genfer Gesellschaft und das Komitee schlossen ihn aus ihren Reihen aus. Zwanzig Jahre lang irrte er durch Europa, zuletzt regelrecht als Clochard. Des Tags hielt er Reden für seine gute Sache, nachts lag er in Wartesälen und auf Parkbänken: "Ich habe zu denen gehört, die ihre Kleider mit Tinte aufschwärzen und ihrem Hemdkragen mit Kreide nachhelfen." Im englischen Plymouth bricht er 1872 während eines Vortrags über diplomatische Konfliktregelung vor Hunger zusammen. Von 1875 an verschwindet er von der Bildfläche der Weltöffentlichkeit, die ihn bald für tot hält. Die Familie setzt dem Verstoßenen 1888 eine Leibrente aus, mit der er sich in dem Appenzeller Dorf Heiden mehr verkriecht als niederlässt. Zwei Jahre später entdeckt ihn dort ein Dorfschullehrer, aber erst 1895 melden die Gazetten überrascht: "Der Gründer des Roten Kreuzes lebt."

Nun häufen sich die Ehrungen und Preise - bis hin zum Friedensnobelpreis. Nichts von den vielen Preisgeldern verwendet er für sich selbst. Dunant wird das Zimmer 12 in einem Hospiz in Heiden nicht mehr verlassen, bis er am 30. Oktober 1910 stirbt - ohne Trauerfeier, ohne Leidtragende, ohne Totenzug, nach eigenem Wunsch zu Grabe getragen "wie ein Hund".

Ein Leben als Sonderling! Ein Leben wie eine Parabel auf den Edelmut und auf die Vergeblichkeit des Bestrebens, Ritterlichkeit und Humanität im Kriege zu wahren, also das zu sichern, was in einem modernen Lehrbuch des Völkerrechts so paradox wie makaber ausgedrückt wird: "die Wertentscheidung zugunsten des menschlichen Lebens und seiner Existenzfähigkeit auch und gerade in der Vernichtungssituation". Als Henry Dunant seine Mission begann, ging es ihm "nur" darum, gegen das "unnötige" Elend im Krieg zu streiten. Am Ende und über aller Vergeblichkeit stritt er, immer sonderlicher, wie es schien, und geradezu anarchistisch gegen alle Gewalten der Welt und wurde schließlich ganz zum Pazifisten. Auch das vergeblich.

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Quelle: DIE ZEIT  52/2001
Wir bedanken uns für die Genehmigung zur Veröffentlichung.