Neuorientierung nach dem 11. September
Die Terroranschläge des 11.September 2001 markieren eine Zäsur in der internationalen Politik. Der Satz, der wohl am häufigsten zu hören war, lautete: "Nichts wird mehr so sein, wie es einmal war." Vorbei sind die Zeiten, in denen es noch Länder gab, die sich in relativer Sicherheit wiegen konnten. Seit die in Bomben verwandelten Flugzeuge die Twin Towers von New York zum Einsturz brachten und tausende Menschen in den Tod rissen, ist die Bedrohung universal geworden. Als Antwort auf diese Verbrechen werden zum Teil gegensätzliche Konzepte und Handlungsstrategien verfolgt: militärische Optionen, politische und ökonomische Lösungsansätze, kultureller Dialog, innenpolitische Sicherheitsmaßnahmen.
Am deutlichsten zeichnen sich die Veränderungen in den sich neu formierenden Strukturen einer Weltordnung: Im Kampf gegen den internationalen Terrorismus werden neue Bündnisse geschmiedet. Die Trennungslinie erfolgt entlang der Frage, wie viel Unterstützung leistet wer im Kampf gegen den internationalen Terrorismus. Innenpolitisches Verhalten, etwa in Bezug auf die Achtung der Menschenrechte, Korruption und Demokratie, tritt zurück. China und Russland rücken um den Preis einer "flexibleren Menschenrechtspolitik" näher an den Westen heran. Pakistan erhält als strategisch wichtiger Partner im Kampf gegen die Taliban nach Jahren der Ausgrenzung massive finanzielle und militärische Unterstützung, und die Nordallianz in Afghanistan darf sich ungeachtet bekannter alter und neuer Kriegsverbrechen der Gunst des Westens erfreuen.
Uneingeschränkte Solidarität und Dominanzpolitik
Doch wer gehofft hatte, die "uneingeschränkte Solidarität" mit den USA sei der Beginn einer neuen, multilateralen Weltordnung, wird eines Besseren belehrt: Der "unipolare Augenblick", der 1991 nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion entstanden ist, dauert an. Das Ungleichgewicht der Kräfte zwischen den Vereinigten Staaten und dem Rest der Welt ist in den letzten zehn Jahren weiter gewachsen. Die militärische Stärke und ökonomische Dominanz der USA bilden gegenwärtig keine Notwendigkeit, Schritte zu einem postnationalen Sicherheitssystem, zu multilateralen Governance-Strukturen einzuleiten.
Seit dem 11. September rückt die islamische Welt ins Bewusstsein der westlichen Industrieländer. Die Tatsache, dass es sich bei den Attentätern um streng gläubige fundamentalistische Muslime handelte, die zudem jahrelang in Europa und den USA gelebt haben, macht deutlich, wie selbstbezogen der Westen agiert hat. Nicht nur Toleranz sondern auch Ignoranz prägen die "offene Gesellschaft", in der wir leben. Zumindest vorübergehend sind seit den Terroranschlägen auch die Gesellschaften in den Focus der internationalen Aufmerksamkeit geraten, die bislang ein Schattendasein im Glanz der Globalisierung geführt haben.
Mit Erschrecken musste der Westen feststellen, dass der "uneingeschränkten Solidarität" mit den USA auf der einen Seite ein relativiertes Mitgefühl auf der anderen Seite gegenüberstand. Ground Zero ist ein gewaltiges, aber nicht das einzige Trümmerfeld auf dieser Welt, wie die bitteren Erfahrungen in Chile, Angola, Ruanda, Jugoslawien und vielen anderen Konfliktherden dieser Welt zeigen. Neben der Enttäuschung darüber, dass menschliches Leben und Leiden offensichtlich zweierlei wert ist, nimmt man die mediale Aufmerksamkeit als Maßstab, spielt hier die Verbitterung über jahrzehntelange Dominanzpolitik der USA gegenüber dem Süden eine Rolle.
Auch wenn wohl niemand einen direkten Zusammenhang zwischen den Anschlägen in den USA und Armut und Unterentwicklung herstellt, gibt es einen übergreifenden Konsens, dass die Weichen stärker in Richtung breitenwirksamer ökonomischer und sozialer Entwicklung gestellt werden müssen. Globale Ungerechtigkeit fordert Widerstand heraus. Armut, soziale und politische Desintegration und Chaos sind der Nährboden, auf dem Fundamentalismus, Hass und Terror gedeihen können.
Schwarze Löcher
Die heute vorherrschende Form von Krieg sind innergesellschaftliche bewaffnete Konflikte: In vielen der betroffenen Länder ist das staatliche Gewaltmonopol zerfallen, die wirtschaftlichen Kreisläufe sind in einem längeren Prozess informalisiert und kriminalisiert. Bis zum 11.September hat die internationale Öffentlichkeit von diesen failing states, den "schwarzen Löchern der Ordnungslosigkeit", wie der grüne Außenminister Joschka Fischer sie bezeichnet hat, nur sehr eingeschränkt Notiz genommen. Hauptleidtragende sind in der Regel die lokalen Zivilbevölkerungen, Profiteure sind neben lokalen Banden und Warlords auch internationale Firmen, die unter diesen Bedingungen besonders günstige Ausbeutungsbedingungen vorfinden, wie die Beispiele der Ölförderung in Angola oder der Koltanförderung in der DR Kongo zeigen. Erst seit die failing states als mögliches Hinterland für den internationalen Terrorismus ins Blickfeld geraten sind, gibt es ernsthafte Überlegungen, sie in eine langfristige politische und wirtschaftliche Strategie einzubinden.
Doch die Kluft zwischen theoretischer Einsicht und konkreten Handlungen ist noch groß. Militärisch-sicherheitspolitische Konzepte werden ausgearbeitet und umgesetzt - nicht-militärische Ansätze zur Deeskalation und Prävention hingegen sehr viel schwerfälliger verfolgt. Dazu gehört auch die vielfach angekündigte Unterstützung des Südens. Wirkliche Entwicklungsmöglichkeiten hin zu strukturellen Veränderungen werden weiterhin geblockt.
*Ingrid Spiller ist Referentin für internationale Politik der Heinrich-Böll-Stiftung.
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Quelle: Perspektiven im Grünen Format, 5/2002.
Wir bedanken uns bei der Heinrich-Böll-Stiftung für die Genehmigung zur Veröffentlichung.