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Die weißen Flecken auf der Landkarte nehmen zu

Es gibt mittlerweile Dutzende Länder auf der Welt, über die es keine, wenige oder nur virtuelle Daten gibt. Es ist, als seien ganze Landstriche nicht nur von der Weltkarte verschwunden, sondern auch aus dem Bewusstsein der Welt gestrichen worden. Ulrich Menzel von der Universität Braunschweig begleitet und bereichert seit vielen Jahren die entwicklungspolitische Debatte. Wir dokumentieren in einer stark gekürzten Fassung einen Vortrag, in dem Menzel auf das buchstäbliche Verschwinden der "Dritten Welt" aufmerksam macht.

(. . .) Gut zehn Jahre ist es mittlerweile her, dass in zahlreichen Beiträgen über die Krise der Entwicklungstheorie räsoniert und damit, von vielen Autoren vielleicht unbewusst, eine Facette zur so genannten Endism-Debatte beigesteuert wurde, die mittlerweile nahezu alle sozialwissenschaftlichen Disziplinen erfasst hat.

Keineswegs nur das Ende der Dritten Welt wurde konstatiert, sondern auch das Ende der Moderne, das Ende der Souveränität, das Ende des Nationalstaats, das Ende der Nationalökonomie, das Ende des westlichen Industriemodells, das Ende der Arbeit, das Ende der Geographie, das Ende einer Weltordnung, das Ende der Geschichte - eingekleidet von diversen De-, Anti-, Post- und Neo-Diskursen über das Ende der Ideologie, das Ende des Fortschrittsdenkens, das Ende der Philosophie, das Ende der soziologischen Theorie, damit konsequenterweise auch das Ende bzw. das Scheitern der großen Entwicklungstheorie.

Neben der Globalisierung, die sich in einer breiten Literatur zum Thema manifestiert, gibt es offenbar eine ebenso mächtige Gegentendenz, nämlich den Zerfall der Welt, der sich in einem ebenso breiten Fragmentierungsdiskurs niederschlägt. Folgt man der genannten Literatur, dann scheinen Substanz und Objekt sozialwissenschaftlicher Beschäftigung sich zu verflüchtigen, ist mit dem explanandum auch das explanans zur Disposition gestellt.

Um so erstaunlicher und gegen diesen Trend gerichtet ist eine für die zweite Hälfte der 1990er Jahre zu konstatierende Renaissance der entwicklungstheoretischen Diskussion in der Bundesrepublik. (. . .) Erstaunlich ist diese Art des Diskurses auch deshalb, weil das eigentliche Problem mittlerweile sehr viel grundsätzlicherer Natur ist. Wenn ich 1983 noch vorsichtig vom "Differenzierungsprozess in der Dritten Welt" gesprochen habe, so habe ich 1991 bereits eindeutiger "Das Ende der Dritten Welt" konstatiert. Als ich damals diese These aufgestellt habe, war damit immer das Ende des Konstrukts, der großen Erzählung "Dritte Welt" und keineswegs, wie von vielen Kritikern immer wieder fälschlicherweise unterstellt, das Ende oder gar die Aufhebung der tatsächlichen Probleme von Entwicklung und Unterentwicklung gemeint, die die Länder auszeichnen, die unter diesem Rubrum zusammengefasst werden. (. . .)

Mit der Auflösung des sozialistischen Lagers macht die begriffliche Dreiteilung der Welt vollends keinen Sinn mehr. Wenn es die Blockkonfrontation nicht mehr gibt, macht eine Blockfreienbewegung keinen Sinn mehr. Damit ist auch die ursprüngliche emanzipatorische Konnotation des Begriffs "Dritte Welt" im Sinne des "Dritten Standes" hinfällig geworden (. . .).

Hinfällig geworden sind auch die entwicklungspolitischen Konzepte der frühen CEPAL, der frühen UNCTAD-Konferenzen oder der Gruppe der 77, die über weltwirtschaftlichen Dirigismus und globalen Ressourcentransfer die Entwicklungsproblematik lösen wollten. Hinfällig deshalb, weil sie der Ausfluss strukturalistischen Denkens waren, wie es insbesondere in Lateinamerika gepflegt wurde. Dieses unterstellte, trotz aller Unterschiede, letztlich extern verursachte, identische Tiefenstrukturen von Unterentwicklung in Lateinamerika, Ost- und Südostasien, im Nahen und Mittleren Osten sowie in Afrika südlich der Sahara als Folge der lang anhaltenden Wirkungen von Kolonialismus und internationaler Arbeitsteilung. (. . .)

Und schließlich ist auch die hiesige Dritte-Welt-Bewegung nur noch ein Schatten früherer Tage. Die zahllosen Freundschaftsgesellschaften und Solidaritätskomitees existieren nicht mehr, die politischen Dritte-Welt-Zeitschriften haben schrumpfende Auflagen oder ihr Erscheinen ganz eingestellt, Dritte-Welt-Verlage haben Konkurs gemacht oder ihr Verlagsprogramm geändert, einschlägige Veranstaltungen und Büchertische sind nur noch schlecht besucht. Diese Beobachtung gilt gleichermaßen für die Kirchen, die politischen Stiftungen und sonstigen NGO, die sich mit dem Thema befassen. (. . .) Vor diesem Hintergrund gehe ich einen Schritt weiter, wenn ich jetzt vom "Ende der Dritten Welt" spreche. Ich meine damit nicht mehr nur das "Konstrukt" in dem o. g. Sinne, auch wenn der Begriff mangels einer überzeugenden Alternative weiterhin ein zähes Leben führt, ich meine vielmehr, dass jetzt auch der tatsächliche Gegenstand entwicklungspolitischer Theoriebildung und entwicklungspolitischer Praxis auf dem besten Wege ist, sich aufzulösen. (. . .)

Gehen wir einmal davon aus, dass das, was mit Hilfe von Statistik, also z. B. volkswirtschaftlichen Gesamtrechnungen oder Zahlungsbilanzen, aber auch der nationalen Bevölkerungs-, Sozial-, Gesundheits- und Bildungsstatistik, also den von allen Ländern herausgegebenen statistischen Jahrbüchern, abgebildet wird, auch tatsächlich existiert, nämlich im territorialen Sinne definierte Nationalstaaten mit einer entsprechend eindeutigen Zuordnung und Abgrenzung von politischen und wirtschaftlichen Aktivitäten, Bevölkerung, Ressourcen etc. Nehmen wir als aggregiertes Exempel die 1997er Ausgabe des jährlich von der Weltbank herausgegebenen Weltentwicklungsberichtes, der immerhin in seiner Statistik 133 Länder mit mehr als einer Million Einwohner verzeichnet und sicherlich zu den zuverlässigsten verfügbaren internationalen Statistiken überhaupt gehört.

Was auffällt: Länder wie Afghanistan, Bosnien, Irak, Iran, Kuba, Nordkorea oder ca. 20 Länder südlich der Sahara fehlen ganz in der Statistik. Andere wie Jemen, Kambodscha, Haiti, Laos, Libanon, aber auch sämtliche Nachfolgestaaten der ehemaligen Sowjetunion und Jugoslawiens weisen mehr Leerstellen (= "Angaben nicht verfügbar") als Ziffern, manchmal sogar nur Leerstellen in ihrer Länderzeile auf. Bei den Hinweisen, wie das Datenwerk zu Stande gekommen ist, wird berichtet, dass die letzte verfügbare Volkszählung oder die letzte volkswirtschaftliche Gesamtrechnung zehn, 20 oder gar 30 Jahre zurückliegt, möglicherweise die einzige, die je unternommen wurde.

Man sollte vermuten, dass Daten, die einen grenzüberschreitenden Transfer messen wie Außenhandel, Kapitalverkehr oder Migration besonders zuverlässig sind wegen der besseren Möglichkeit an der Grenze, solche Daten zu erheben. Doch wer die Statistiken von Partnerländern untersucht hat, weiß, wie schnell man verzweifeln kann, wenn die Exportdaten des Landes A so gar nicht zu den korrespondierenden Importdaten des Landes B passen wollen. (. . .)

Neben die Dekapitalisierung eines ganzen Kontinents, dessen Infrastruktur verfällt, wie sich am Beispiel der verrottenden Eisenbahnen und Hafenanlagen ablesen lässt, tritt dessen weltwirtschaftliche Marginalisierung. Mittlerweile beträgt der afrikanische Anteil am Welthandel weniger als ein Prozent mit weiter abnehmender Tendenz, ist das kombinierte statistisch ausgewiesene Sozialprodukt aller Länder südlich der Sahara deutlich niedriger als das von Südkorea. Afrika ist also weder als Markt noch als Lieferant von Interesse. (. . .)

Halten wir vorläufig fest: Es gibt 40, 50, möglicherweise sogar 80 "Länder" auf der Welt, über die entweder keine, nur sehr lückenhafte, unzuverlässige, völlig veraltete oder lediglich rein virtuelle Daten vorliegen, mit deren Hilfe doch Nationalstaaten oder Nationalökonomien abgebildet werden sollen. Daran ändert auch nichts der Umstand, dass der Gini-Index in der Einkommensverteilung, die Rate des Bevölkerungswachstums, die Zahl der Krankenbetten pro Kopf oder die Quote derjenigen, die Zugang zu sauberem Wasser haben, mit fünf Stellen hinter dem Komma ausgewiesen sind.

#Umbr

Minuszeichen und Leerstellen
Unter den Ländern, für die vollständige Daten vorliegen, weist der Weltentwicklungsbericht bezüglich des durchschnittlichen jährlichen Wachstums des BIP über die Jahre 1980-1990 lediglich für zehn Länder, über die Jahre 1990-1995 aber bereits für 30 Länder ein Minuszeichen aus. Um nur die spektakulärsten Fälle zu nennen: Ruanda (-12,8%), Haiti (- 6,5%), Georgien (- 26,9%), Aserbaidschan (- 20,2%), Kirgisistan (-14,7%), Armenien (-21,2%), Kasachstan (-11,9%), Ukraine (-14,3%), Litauen (- 9,7%), Weißrussland (- 9,3%), Russland (- 9,8%), Lettland (- 3,7%), Estland (- 9,2%), wohlgemerkt jährlich über einen Zeitraum von fünf Jahren.

Wie hoch mag das Minuswachstum bei den Ländern sein, für die diese Daten erst gar nicht verfügbar sind? Oder: Was lässt sich mit der Aussage anfangen, dass in Äthiopien im Jahre 1995 das BSP pro Kopf und Jahr 100 US-Dollar betragen hat und zwischen 1985 und 1995 jährlich um 0,3 % geschrumpft ist? Somalia oder gar Eritrea sind erst gar nicht verzeichnet. Bei der Pro-Kopf-Statistik weisen übrigens 47 Länder einen negativen Wert auf. Hinzu kommen 13, für die keine Werte verfügbar sind, so wie noch mal schätzungsweise die doppelte Anzahl von Ländern, die erst gar nicht in der Statistik aufgeführt werden. Das macht etwa 60 bis 70 Länder, in denen bereits auf dem Papier die Lage dramatisch erscheint.

Worauf sind nun diese sich häufenden Minuszeichen, Leerstellen oder das völlige Fehlen von Daten zurückzuführen? Auf das tatsächliche Schrumpfen wirtschaftlicher Tätigkeiten, auf eine wachsende Zuverlässigkeit der Daten, die ehemals propagandistisch aufgeblähte Werte auf ihren harten Kern zurückführt, auf rückläufige Erfassungskapazität der jeweiligen statistischen Ämter, weil Schattenwirtschaft und Schmuggel wachsen, weil die Reichweite der Datenerhebung zurückgeht, weil vielfach nicht mehr als die Hauptstadt und der wichtigste Ausfuhrhafen überhaupt erfasst werden oder vielleicht sogar, weil sich viele postkoloniale und postsozialistische Staaten schlichtweg aufgelöst haben?

Von welcher Statistik wird das Herrschaftsgebiet der angolanischen Unita, der afghanischen Mujahedin, der Roten Khmer, des Leuchtenden Pfades, der sahaurischen Tuareg, der mexikanischen Zapatisten, des Medellin-Kartells, der algerischen GHIA, der tamilischen Befreiungstiger, der somalischen War Lords, der kurdischen PKK, der Hisbollah erfasst?

Ganz zu schweigen von Kaschmir, dem südlichen Sudan, den Schan-Staaten in Burma etc. etc. Welche Statistik erfasst die Favelas, Shanty Towns, Bidonvilles und Slums im Weichbild asiatischer, lateinamerikanischer und afrikanischer Mega-Städte? Mitten in Afrika gibt es eine einzige große Kriegszone von Angola über die beiden Kongo, Ruanda, Burundi bis in den südlichen Sudan und weiter nach Äthiopien und Eritrea, wobei die klassische Unterscheidung zwischen Krieg und Bürgerkrieg nicht mehr möglich ist.

Die weißen Flecken auf der Landkarte, die neue Terra incognita, nehmen zu (. . .). Der paradoxe Befund lautet jedenfalls: In den 20 Jahren, in denen bislang Weltentwicklungsberichte veröffentlicht wurden, hat der statistische Aufwand, den die Weltbank betreibt, sicherlich erheblich zugenommen. Gleichzeitig dürfte die Validität und Reliabilität der ausgewiesenen Daten für viele Länder aber eher nachgelassen haben. Die dort aggregierten Daten zum jeweiligen Weltaufkommen, die doch wiederum relative Aussagen zum Ranking einzelner Länder ermöglichen sollen, sind demzufolge erst recht spekulativer Natur.

Geblieben ist nur die medial aufbereitete Symbolik des Staates, "the cloud-capped towers, the gorgeous palaces, the solemn temples": die Flaggen und Hymnen, Orden und Uniformen, die schwarzen Mercedes-Limousinen und BMW-Motorrad-Eskorten, die Flughafenempfangsgebäude und Präsidentenpaläste inklusive der beides verbindenden Prachtstraße, auf der die jubelnden Massen den ausländischen Staatsgast flankieren, und im Hintergrund längs dieser Bühne die Kulissen aus Prestigebauten der Entwicklung und Projekten der Industrialisierung.

Dass diese vielfach nur Ruinen sind, nie richtig produziert haben, längst zweckentfremdet oder gar kannibalisiert wurden, aber dennoch vielen "Direktoren" hohe Einkommen verschaffen, erfährt der durchreisende Entwicklungshilfeminister und sein ihn begleitender Journalistentross während der Stippvisite nur selten.

Woran liegt es, dass in so vielen Ländern trotz dreier Entwicklungsdekaden, erheblichen personellen und finanziellen Aufwands und durchaus emanzipatorischer Absichten das Projekt "Entwicklung" in diesem Teil der Welt so brutal gescheitert ist, nur noch von der Entwicklung des Zusammenbruchs die Rede sein kann. Eine der vielen Ursachen ist womöglich die Entwicklungszusammenarbeit (EZ) selber, weil sie den latent vorhandenen Hang zur Rentenorientierung der Herrschenden, die behelfsweise als Staatsklassen bezeichnet werden, verstärkt und damit die Bildung einer unternehmerisch orientierten Mittelschicht blockiert.

Wenn ein wesentlicher Teil des Staatshaushalts, in etlichen afrikanischen Ländern mehr als 50 %, aus der Entwicklungshilfe stammt, kann es durchaus rational sein, nicht unternehmerische Aktivitäten zu fördern, um die Einkommen zu steigern, sondern Strategien zu entwickeln, um die Renteneinkommen aus der EZ zu maximieren. Ein beliebtes Mittel ist dabei die Steigerung der "Transaktionskosten" durch die Errichtung von immer neuen bürokratischen Hürden bei Projekten, die durch entsprechende Schmiergelder oder sonstige Zweckentfremdung überwunden werden müssen. Eine andere Strategie ist die Ausschlachtung von Projekten, die durch immer wieder nachgeschobene Ausrüstungen wieder funktionstüchtig gemacht werden müssen. Hier treffen sich die Interessen von lokalen Partnern und den Institutionen der EZ, gleichgültig ob staatlich oder NGO. Das Eigeninteresse der Apparate verlangt die Bereitstellung der Mittel von Seiten der Geber, den Mitteldurchfluss durch die Institutionen der EZ und den Mittelabfluss, der wiederum aufnahmefähige Partner vor Ort voraussetzt.

Verschärfend für den Zusammenbruch vieler Staaten wirkt der Umstand, dass das Scheitern des Entwicklungsprojekts destabilisierend auf das soziale Gefüge der postkolonialen Staaten wirkt. Insbesondere unter den perspektivlosen Jugendlichen der immer weiter anschwellenden Peripherie der großen Städte wächst ein Gewaltpotenzial und auch die Bereitschaft zur Gewalt, die durch einschlägige Filme aus dem Westen noch medial aufgeheizt wird. Dieses Gewaltpotenzial vermögen rivalisierende Cliquen der Staatsklasse zu nutzen, um die Reihen ihrer Soldateska aufzufüllen und sich anschließend als War Lords die Rente auf direkte gewaltsame Weise ohne den Umweg über die EZ anzueignen.

Dazu sind langfristig angelegte Projekte eher ungeeignet. Geeigneter sind vielmehr die Mittel aus der Katastrophenhilfe, die sich direkt am Hafenkai oder Flughafen mit der Kalaschnikow abzweigen lassen. Auch das Elend, soweit es nur im Westen fernsehgerecht aufbereitet ist, kann eine Quelle von Renteneinkommen sein. Damit läuft auch die Katastrophenhilfe Gefahr, in die gleichen Dilemmata wie die herkömmliche Entwicklungshilfe zu geraten, die darin bestehen, das humanitäre Interesse der Geber mit den Renteninteressen der politischen Akteure in den Empfängerländern, die Mobilisierung der Öffentlichkeit, die Spendenbereitschaft und politischen Handlungsdruck auslösen soll, mit den Eigeninteressen der mit der Katastrophenhilfe befassten Institutionen in Einklang zu bringen.

Noch radikaler formuliert lässt sich sogar argumentieren, dass wir es in etlichen postkolonialen Gesellschaften gar nicht mit dem Zerfall von Staaten zu tun haben. Dieses setzt nämlich voraus, dass es zuvor funktionierende Staaten gegeben hat, die in der Lage waren, öffentliche Güter wie Rechtssicherheit, Schutz des Eigentums, Infrastruktur, Geldwesen etc. bereitzustellen. In Wirklichkeit war es aber vielleicht so, dass in etlichen Fällen nur die Symbole des Staates gegeben waren, von der Bereitstellung öffentlicher Güter aber nie wirklich die Rede sein konnte.

Was jetzt zerfällt, ist nicht der Staat, sondern dessen Karikatur. Insofern ist das alltägliche Leben der Menschen, so lange sie nicht von War Lords oder Krieg drangsaliert werden, von diesem "Staatszerfall" auch viel weniger betroffen, als man annehmen sollte.

#Umbr

"Daten nicht verfügbar"
Die eingangs erwähnte neuerliche akademische Diskussion tut aber so, als gäbe es sie, die eine Welt wie deren einzelne Teile, nämlich die 180 "Entwicklungsländer", wirklich, wenn vorgeschlagen wird, die Produktionsfunktion um die Dimension des Humankapitals zu erweitern (etwa für Kongo Brazzaville?), die systemische Wettbewerbsfähigkeit durch Integration der Mikro-, Meso-, Makro- und Metaebene zu verbessern (etwa im südlichen Sudan?), "good governance" durch Konditionierung von Entwicklungshilfe zu erzwingen (etwa zur Aufnahme weiblicher Patienten in den Krankenhäusern Kabuls?), durch Deregulierung eine weltmarktorientierte Strukturanpassung einzuleiten (etwa in Kaschmir, Tibet oder Irak?) oder eine nachhaltige Entwicklung durch eine Internalisierung der Kosten des Verbrauchs von freien Gütern (etwa bei den Marihuana-Produzenten in Kolumbien?) herbeizuführen.

Meine These lautet also: Bevor Entwicklungstheorie wieder entwicklungspolitisch fruchtbar gemacht werden kann, über die sich dann auch streiten lässt, bedarf es in einer wachsenden Zahl von "Ländern" zunächst einmal der (Wieder-)Herstellung staatlicher Ordnung schlechthin. Dieses muss Konsequenzen für die aktuelle Entwicklungszusammenarbeit haben.

Aber nehmen wir den anderen Fall aus der Weltbankstatistik. Es gibt zweifellos eine ganze Gruppe von Ländern, für die das Datenmaterial zuverlässiger geworden ist, wo die Chiffre für "Daten nicht verfügbar" nicht (mehr) auftaucht, wo die letzte statistische Erhebung ganz aktuell ist, wo von 1980-1995 kein Minuszeichen vor den Wachstumskennziffern steht, sondern hohe Pluszeichen. Diese Wachstumsraten liegen bei 5 %, manchmal sogar bei 10 %. Ich meine (nur 1990-1995) Vietnam 8,3 %, China 12,8 %, Indonesien 7,6 %, Thailand 8,4 %, Malaysia 8,7 %, Südkorea 7,2 %, Hongkong 5,6 %, Singapur 6,4 % jährlich. Hinzu kommt noch Taiwan.

Unschwer ist die gemeinsame geographische Zugehörigkeit zu Ost- und Südostasien zu erkennen, jene Region der neuen Industrieländer und der zweiten Generation der Schwellenländer mit hohem Bildungsniveau, hoher durchschnittlicher Lebenserwartung und vergleichsweise egalitärer Einkommensverteilung auf der Basis einer eher homogenen Grundbesitzverteilung.

Der in den späten 1930er Jahren von Japan geprägte Euphemismus der "Gemeinsamen Großostasiatischen Wohlstandssphäre" ist tatsächlich Wirklichkeit geworden. Es handelt sich allesamt um exportstarke Ökonomien, die den alten Industrieländern in Westeuropa und Nordamerika das Fürchten lehren. Selbst die sog. Asienkrise war offenbar nur von sehr temporärer Natur. Die Wachstumsraten, z. B. in Südkorea, haben bereits wieder das alte Niveau erreicht.

Gemeinsam ist allen (man sollte Japan hinzuzählen) der bürokratische Entwicklungsstaat, die eher instrumentelle Nutzung der Marktkräfte, die hohe Bildungsorientierung der Bevölkerung, deren Arbeitsethik und, ganz besonders in Südostasien, die Netzwerke gegenseitigen Vertrauens und gegenseitiger Beziehungen der auslandschinesischen Familienunternehmen, die als "Lords of the Rim" ihrer eigenen, aber nicht der Logik westlichen Unternehmertums oder gar westlicher EZ-Experten folgen.

Das gemeinsame Sozialprodukt dieses "vierten China" erscheint in keiner Statistik, dürfte aber schätzungsweise um ein Viertel über dem der VR China liegen. Entgrenzung also auch hier.

Über die Gründe für diesen welthistorisch einzigartigen Prozess nachholender Entwicklung lässt sich streiten. Neoliberale verweisen auf die Weltmarktorientierung nach Maßgabe komparativer Vorteile, Revisionisten betonen die Rolle des bürokratischen Entwicklungsstaates, Kulturalisten verweisen in Verkehrung der Weber-These auf den Konfuzianismus oder sog. asiatische Werte. Akamatsu Kaname, in seinen frühen Schriften der Ideologe der "Großostasiatischen Wohlstandssphäre", die den japanischen Kolonialismus rechtfertigte, mit seiner Gänseflug-Methapher und später Bruce Cummings bemühen ein Produktzyklus-Argument.

Andre Gunder Frank sieht sogar einen 500-jährigen Zyklus am Werk. Im Jahre 1500 begann dem zufolge der Aufstieg Europas zu Lasten des bis dahin führenden Asiens, finanziert durch das geraubte amerikanische Edelmetall, mit dem die überlegenen Produkte des Orients bezahlt wurden, was wiederum Ressourcen im Westen sparen half. Jetzt erreicht der Zyklus sein Ende. Asien steigt wieder auf, und der Westen befindet sich im Niedergang. Wieder hat der Westen eine negative Handelsbilanz gegenüber dem Osten, die durch Devisenabflüsse ausgeglichen werden muss.

Die gesamte Region Ost- und Südostasien, immerhin nahezu ein Drittel der Menschheit, sollte deshalb nicht mehr Gegenstand von Entwicklungspolitik sein, weil ihre Länder erstens der EZ nicht mehr bedürfen bzw. bei Bedarf das Know- how professioneller Consulting-Firmen einkaufen können; weil zweitens bei deren nachholender Industrialisierung kaum den westlichen Empfehlungen gefolgt wurde; weil drittens sich deren eigene Entwicklungsrezepte kaum auf kulturell ganz anders geprägte Regionen dieser Welt übertragen lassen, also nur wenig von Asien in Lateinamerika oder Afrika gelernt werden kann; und weil viertens dort einer ungebrochenen Wachstumseuphorie gehuldigt wird. Letzteres ist das Faktum und nicht die sympathische, aber doch reichlich romantische Träumerei von der nachhaltigen Entwicklung.

Das BMZ sollte einmal den Versuch machen, die "Entwicklungshilfe"-Millionen zum Bau der Schanghaier U-Bahn zu konditionieren, um China zu "good governance" bezüglich seiner Motorisierungsmanie und dazu gleich noch in der Menschenrechtsfrage anzuhalten. Das schließt natürlich in keiner Weise die theoretische Untersuchung der Modernisierungsprozesse in Asien in akademischer Absicht aus.

Wird man allerdings diese Länder weiterhin entwicklungspolitisch unterstützen, werden nur der Verdrängungswettbewerb gegenüber den alten Industrieländern und deren soziale Fragmentierung beschleunigt. Damit vertieft sich nur das Dilemma, das sich auftut zwischen hiesiger gewerkschaftlicher und sozialstaatlicher Orientierung und entwicklungspolitischem Engagement. Gefördert würde nur die von Lothar Brock in seinem Debattenbeitrag zu Recht konstatierte weitere Versüdlichung der ehemals Ersten Welt, die keineswegs nur die Folge von Migration ist.

Bevor also eine neue entwicklungstheoretische Diskussion mit der Absicht entwicklungspolitischer Handlungsanweisung vom Zaun gebrochen wird, muss es um ein Verständnis gehen, was mit dieser "verdampfenden", sich in "dünne Luft" auflösenden Welt eigentlich passiert. Globalisierung vs. Fragmentierung ist zwar ein passender Begriff, zunächst aber auch nicht viel mehr als ein Schlagwort. Wir brauchen viel mehr analytische Durchdringung der Globalisierung (also von "McWorld"), um Strategien zu entwickeln, die entgrenzte Ökonomie wieder politisch einzubetten. Das wird auf nationalstaatlicher Ebene allein sicherlich nicht mehr gehen. Es bedarf neuer globaler Verregelungen, etwa eines neuen Bretton Woods mit einer langen Tagesordnung. Die Aufkündigung des neoliberalen Washington-Konsenses und die Wiederentdeckung des Staates von Seiten der Weltbank deuten bereits in diese Richtung.

Wir brauchen aber gleichermaßen ein Verständnis dessen, was in der neuen Terra incognita eigentlich passiert (also der Zone von "Jihad"). Vielleicht weist der Entwicklungsbericht des Jahres 2010 bereits 300 Länder auf, die dann nicht mehr bloß statistische Artefakte sind, weil der Zerfallsprozess der postkolonialen und postsozialistischen Staaten sich erschöpft hat. Vielleicht muss man sich aber auch ganz von der Vorstellung verabschieden, dass die Probleme dieser Welt mittels Entwicklungspolitik lösbar sind nach dem Motto "Man müsste doch bloß . . ."

Die unmittelbare Konsequenz für die EZ kann deshalb nur sein die regionale und systematische Umwidmung der Mittel und Anstrengungen. Die ost- und südostasiatischen Schwellenländer ebenso wie die Rentierstaaten am Persischen Golf sollten ganz herausgenommen werden aus der EZ. Konzentriert werden sollten alle Ressourcen auf die Katastrophenregionen der Welt, also die weiter oben geschätzten 50-60 Länder. Hierbei sollte es aber eine Verlagerung der Aktivitäten weg von den klassischen, langfristig angelegten Projekten geben, die ein stabiles politisches Umfeld, Rechtssicherheit, funktionierende Märkte etc. voraussetzen, Rahmenbedingungen, die nicht mehr gegeben sind.

#Umbr

Konfliktbearbeitung
An ihre Stelle sollte die humanitäre oder Katastrophenhilfe treten, wobei aber auch das Verständnis des Begriffs "Katastrophe" einem Wandel unterliegt. Es geht nicht mehr nur um Dürre, Heuschreckenplagen, Überschwemmungen, Seuchen, Erdbeben oder Vulkanausbrüche, sondern um Flüchtlingselend, Bürgerkrieg, Genozid. Die eigentliche Katastrophe ist der Verfall staatlicher Ordnung schlechthin. Neben der klassischen Nothilfe (Nahrungsmittel, Medikamente, Zelte, Wasseraufbereitung etc.) muss es also darum gehen, zunächst einmal die verfallenen postkolonialen Gesellschaften wieder zu befrieden und politisch zu stabilisieren.

An die Stelle der EZ muss vielfach erst einmal die Konfliktbearbeitung (Mediation) treten. Selbst das Development Assistance Committee der OECD hat erkannt, dass der Übergang von der EZ zur zivilen Konfliktbearbeitung genauso fließend geworden ist wie der von der zivilen zur militärischen Friedensstiftung. Die Trennschärfe zwischen den staatlichen und nichtstaatlichen Institutionen der EZ, zwischen Konfliktbearbeitungs-NGOs wie International Alert (IA) und Menschenrechts-NGOs wie Amnesty International (AI), zwischen Peace-Keeping, Peace-Making und Peace-Enforcement verschwimmt. Wenn das staatliche Gewaltmonopol aufgehoben ist, bedarf auch der Entwicklungshelfer des militärischen Schutzes gegen die War Lords, wird der Kfor-Soldat auch als Sanitäter, Fernmeldetechniker oder Pionier benötigt, kann der eigentlich auf strikte Neutralität angewiesene Mediator sich der Parteinahme im Sinne der Menschenrechte kaum noch entziehen.

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Quelle: Frankfurter Rundschau, 31.5.2000
Wir bedanken uns für die Genehmigung zur Veröffentlichung.